Auszug aus pers. Buchmanuskript*
Die meisten Erfahrungen, die ich nach dem Unfall gemacht habe, sind alles andere als komisch. Einige davon sind derart abstrus, dass sie nur erträglich sind, indem ich sie der Lächerlichkeit preisgebe. So wie das folgende faszinierende Erlebnis.
Wenn Eine eine Reise tut
Ab Sommer 2010 fuhr ich über einen Zeitraum von fast drei Jahren zur Behandlung ins Grönemeyer-Institut[1] nach Bochum[2]. Um diese Termine bewältigen zu können, musste ich pro Termin mindestens für eine Nacht in der Stadt der Romantik übernachten.
Insgesamt dauerte solch eine Behandlungsreise mindestens drei Tage. Einen Tag Hinfahrt, einen Tag Behandlung, einen Tag Rückfahrt. Meist brauchte ich vier oder fünf Tage, da Erschöpfung und Schmerzen nach den Behandlungen mehr Zeit in Anspruch genommen haben.
[1] Klinik mit fachübergreifenden Bereichen
[2] Die schönste Stadt zum Vorbeifahren
Ein Tag Behandlung – acht Tage Reisedauer
Die Behandlungsreise mit der längsten Dauer nahm acht Tage in Anspruch. Die Übernachtungskosten waren dann höher als die Behandlungskosten. So konnte solch eine Reise schnell in den vierstelligen Bereich gehen. Doch ich wäre zum Mond geflogen und hätte meinen letzten Cent ausgegeben, wenn ich nur Hilfe bekommen hätte.
Schmerzhafte Schmerzbehandlung
Bei einer Schmerzbehandlung im Gronemeyer Institut wurde unter dem CT[3] an den Nervenwurzeln der LWS eine Injektion mit Schmerzmittel und Cortison[4] eingebracht. Dabei war der Arzt aufgrund von Übermüdung – die Behandlung war für 16:00 Uhr terminiert, tatsächlich fand sie wegen Notfällen kurz vor 20:00 Uhr statt – mit der Nadelspitze abgerutscht. Aua. Obwohl ein Teil von Rücken und beide Beine taub und nur mit größtem Willen um Zentimeter nutzbar waren, hatte ich zu den bereits vorhandenen Schmerzen zusätzlich kaum auszuhaltende Schmerzen. (Mehr dazu in einem anderen Buchkapitel).
[3] Computer-Tomografie
[4]Periradikuläre Schmerztherapie – PRT

Einhundert Meter – eine Reise zum Mond
Zu Beginn dieser Behandlungsreisen nächtigte ich der Einfachheit halber in einem Hotel in Bahnhofsnähe. Die Zimmer waren gediegen rustikal. Interieur sowie das Teppichboden ähnliche Gebilde hatten einige Dekaden hinter sich und waren damals bereits so alt wie ich heute (Ü50 mit Tendenz zu U60)
Zu Fuß waren es vom Bahnhof ungefähr einhundert Meter zum Hotel. Mit dem Auto aufgrund von Einbahnstraßen und Umleitungen waren es circa dreihundert Meter.
Die wenigen Meter Fußweg waren damals für mich wie die Reise zum Mond – unmöglich, so dass ich auf die Fahrt mit einem Taxi angewiesen war. Wäre der Weg zum Hotel abschüssig gewesen, ich wäre auf meinem Koffer mit Rollen zum Hotel gerollt. Dies war nicht möglich und so haben sich die Taxi-Fahrten zu einer Art Extrabonus entwickelt.
Feinste deutsche Hochkultur
Dabei waren die Taxifahrer ein Höhepunkt feinster deutscher Hochkultur. Rustikale Traditionen wurden liebevoll gepflegt. Gesprochen wurde hauptsächlich ein kaum zu verstehendes Kauderwelsch aus Schimpfwörtern.
Eines dieser zweibeinigen hochkulturellen Ereignisse sollte/ musste ich gleich bei einer der ersten Fahrten nach Bochum kennenlernen.

Baron B ähnliche Abbildung
Oha
Ein Bahnmitarbeiter vom Mobilitätsservice[5] hatte mich mit einem Transportmittel vom Zug abgeholt und zum Taxistand gebracht. An diesem stand an jenem Sommernachmittag die gesamte Haut Couture der Bochumer Taxifahrer. Mein erster Gedanke beim Anblick der in Samt und Seide gewickelten Feingeister (wobei die Betonung auf Geist liegt), war: Oha. In eleganten Zweireihern standen sie rauchend beieinander und warteten mit einladenden Blicken auf Fahrgäste. Auf den Dächern ihrer Fahrzeuge lagen Werke von Homer, Shakespeare und Büchner.
Von diesem adretten Anblick animiert, begab sich der Bahnmitarbeiter zum Anfang der Taxifahrzeuge, während ich aufgrund bereits gemachter Erfahrungen mit dieser speziellen Spezies skeptisch in Sichtnähe wartete.
[5] Eine Abteilung der deutschen Bahn für Menschen mit Behinderungen
Papstwahl
Kaum hatte der Bahnmitarbeiter den Fahrern mitgeteilt, welcher Fahrauftrag ihr nächster sei und dabei in meine Richtung gezeigt, wurde deutlich, dass die Herren im richtigen Leben im gehobenen Management führender Dachs-Unternehmen arbeiteten und das Taxifahren lediglich ein Ausgleich zu ihren stressigen Jobs war. Aussagen und Begriffe flogen über den Bahnhofsvorplatz, deren Bedeutung mir glücklicherweise verborgen blieb. Lediglich dem wilden Gestikulieren und an der Lautstärke der Diskussion konnte ich jedoch erkennen, dass nicht über die Saat von Sonnenblumen oder die Wahl des nächsten Papstes diskutiert wurde.
Ein fahrbares Chalet
Nach etwa fünf Minuten verbalem Gefecht war auch mir endlich klar, dass keiner der Fahrer gewillt war, meinen Rollkoffer und mich die dreihundert Meter zum Hotel zu fahren. Erst nachdem der Bahnmitarbeiter mit einer Anzeige gedroht hatte und mehrere Passanten die Taxifahrer umlagerten, öffnete einer der Fahrer seinen Verschlag sein fahrbares Chalet. Nach etwas genauerem Hinschauen eine Müllkippe auf vier Rädern – eine tolle Idee der Stadt Bochum.
Baron B
Die Fahrt zum Hotel war ein weiteres kulturelles Hochereignis. Auf dieser kurzen Fahrt hat der Chauffeur – nachfolgend Baron B genannt – ganz der galante Gästebetreuer, mich umgehend und liebevoll mit dem heimischen Sprach- und Verhaltensgebräuchen seiner Stadt vertraut gemacht. Er brachte mir regionale Begriffe wie Abschaum, Dreck und Abfall näher – passend zu seiner fahrenden Drecksschleuder.
Frei- und Leerräume
Um diese Begrifflichkeiten möglichst authentisch zu vermitteln, hatte Baron B. den Großteil seiner Kauleiste[6] herausgenommen. In den dadurch freigewordenen Räumen steckte ein Sargnagel (Zigarette der Marke Dreckstück für einsfuffzig), der genauso elegant ausschaute wie Baron B. him self.
Den Fahrpreis von 5,40 Euro am Ende der Fahrt verstand ich auf Grund der oralen Leerräume nur sehr lückenhaft. Den gewünschten Betrag lies ich unter größter Anstrengung – um mit möglichst Nichts in diesem Vehikel, vor allem nicht mit Baron B. in direkten Hautkontakt – zu kommen, auf den Rücksitz fallen.
[6] Zähne, Gebiss

Hochmodern und pikfein: Das Taxi von Baron B
Rems und Räude und feinstes Fledermausleder
Der eigenen Gesundheit war es zuträglicher, in diesem Wagen des Jahres mit dem Fahrer des Jahrhunderts nichts dem direkten Hautkontakt auszusetzen. Meine bereits vorhandenen Einschränkungen wollte ich nicht noch um die Rems oder die Räude ergänzen.
Beim Aussteigen aus der Bakterienschleuder wartete Baron B. – ganz der feingeistige Denker dessen Hände für Klavier und Kaviar gemacht sind – höflich mit einem Hauch von Transpiration auf seinem mit feinstem Fledermausleder bezogenen Sitz, bis mein Rollkoffer und ich den Weg aus seinem Gespann gefunden hatten. Gelegentlich paffte er eine Rauchwolke mit dem Duft der großen weiten Welt vor sich hin.
Schloss Rammstein und Freifrau Fredericke
Mit einem zuvorkommenden regionalen Satzbau in dem mindestens einmal das Wort Schaum vorkam, verabschiedete sich Baron B. und quietschte mit fahrenden Reifen um die Ecke. Sicher war Baron B in Gedanken bereits auf seinem Schloss und in Vorfreude auf das abendliche Diner, welches stets mit einem Entree von Schlampanja (Schaumwein) und gestörten Fischeiern begonnen wurde.
Wahrscheinlich wartete zu Hause auf Schloss Rammstein seine Gemahlin, Freifrau Fredericke von und zu auf und davon bereits mit dem Entree zum Abendtisch.
Die brokatverzierten Hausschuhe des Baron B. wurden in einer eigens dafür entworfenen Wärmebox auf kontinuierlich 42,71 Grad Celsius vorgewärmt. Dies war die Lieblingstemperatur der fidelen Füße von Baron B. Ein Zehntel Grad weniger oder mehr führten zu einem Räudeähnlichem Ausschlag sowie einem Tobsuchtsanfall der Marke extraordinär.
Schloss Rammstein: Das Schloss von Baron B und Freifrau Fredericke

Die Geburt Jesus
So manch güldener Teller ist bei einem dieser Anfälle bereits zu Bruch gegangen. Sogar die Lieblingsbrosche seiner Frau Gemahlin, ein Erbstück in achtundsiebzigster Generation (kurz nach der Geburt Jesus) ist einem dieser Anfälle zum Opfer gefallen.
Der jüngste Sohn, Stammhalter Prinz Julius Adebar spielte auf dem Flügel Einsteins sechsundvierzigste, eigens komponiert für den Herrn Papppa. Und Tochter Alexandra, Prinzessin der Pigmente, kam soeben auf ihrer Stute King of the World von ihrem nachmittäglichen Ausritt auf das heimische Gehöft getrabt.
Künstliche Kauleiste und Erhabene Wohltätigkeit
Und wahrscheinlich lag auf einem brokatverzierten Unterteller der Marke Rutschenheuter das güldene Gebiss von Baron B, welches er nur zu besonderen Anlässen in seinen oralen Freiraum klemmte. Ungeduldig wartete seine künstliche Kauleiste darauf, endlich wieder in Wachteleier zu beißen und das wollige Prickeln eines Pom Derignon zu schmecken.
Das Fahren des Taxis gehörte nicht zu den besonderen Anlässen. Bei diesen handelte es sich um wohltätige Erhabenheit, mit welcher die reich gesegnete Familie ein klein wenig von ihrem Glück abgeben möchte.

Hochadliges Teilen: Zwischen 10:00 und 19:00 die Kauleiste des schlosseigenen (Dalai)Lamas. Ab 19:00 bis 10:00 morgens die Kauleiste von Baron B





Danke und Wunsch
An dieser Stelle herzlichen Dank an den sehr freundlichen und sehr geduldigen Bahnmitarbeiter, der sich von wüsten Beschimpfungen nicht hat abhalten lassen und einen der Taxifahrer dazu gebracht hat, die kurze Kurzstrecke mit dem Lebendmüll (Originalton Baron B I Bochumer Taxifahrer) zu fahren. Diesem bleibt zu wünschen, er möge selbst nie in solche eine Situation kommen und dann auf Personen wie ihm selbst treffen.
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*geplante Veröffentlichung Frühjahr 2024
Bilder: Pixabay.com
Bildbearbeitung: wgl – wiedergehenlernen I katrin dohnt