Wohin wird die Reise gehen?

In den vergangen Jahren habe ich mich mit der Frage auseinander gesetzt, wie und wo ich mein (wahrscheinlich) letztes Lebenskapitel leben möchte.

In meinem eigenen Haushalt stoße ich immer wieder an Grenzen. Die Wohnung ist zwar schön, doch leider nicht behindertengerecht. Dies, die Tatsache, dass ich meinen Alltag nur noch schwer bewältigen kann, sowie die außerordentliche Kündigung durch meine Vermieterin (eine lange, eine andere Geschichte) haben mir die zunächst angstmachende Entscheidung leichter gemacht.

Und so bin ich froh, wenn ich im Laufe dieses Jahres ein neues Zuhause finden kann in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Betreuung. Mit Unterstützung des LWV Darmstadts (Landeswohlfahrtverband) bin ich sicher für meine letzte Lebensdekade eine gute und passende Unterkunft zu finden.

Vorfreude und Hoffnung wachsen

Haben zunächst ängstliche und traurige Gedanken bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema überwogen, stellt sich allmählich Erleichterung und Vorfreude ein. Die Vorstellung, mich künftig um nichts als um mich kümmern zu können, sprengt momentan noch meine Vorstellungskraft. Ebenso der Gedanke daran, wieder anderen Menschen zu begegnen. Nach mehr als zehn Jahren sozialer Isolation schier überwältigend. Ebenso wie der Gedanke, dann endlich meinen Interessen nachgehen zu können. Meine Bücher fertig zu stellen, meine Kreativität wieder leben zu können – pures Glücksgefühl.

Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wohin diese Reise führt. Da ich regional ungebunden bin, kann dass deutschlandweit fast überall sein. Hauptsache, weg von der Telekom, die hier omnipräsent ist.

Voller Hoffnung und Vorfreude und der Frage, wohin die Reise gehen wird

Loslassen – das große Zauberwort

Da meine neue Unterkunft räumlich wesentlich begrenzter sein wird als mein jetziges zuhause, werde ich fast alles Materielle hinter mir lassen müssen (dürfen?). Dieser Gedanke schafft mir inzwischen mehr Erleichterung als Sorge. In meinem Leben gab es bereits einige große Lebensumbrüche und Neuanfänge.

So der „Weggang“ vor mehr als dreißig Jahren aus der damaligen DDR in die BRD.

Gedankenreise in die Vergangenheit

Mit einer Reisetasche mit dem Allernötigsten wie persönliche Dokumente, nötigste Kleidung und ein paar Erinnerungsfotos. Begleitet von der Angst in eine Reise ins Ungewisse. Viel hätte damals noch schiefgehen können. Die Zugfahrt ohne zu Wissen, wo genau der Zug hinfährt, war der reinste Horrortrip.
Hunderte Gleichgesinnte waren zusammengequetscht in den Abteils. Kinder lagen weinend und schreiend in den Gepäckablagen. Alte Menschen saßen zitternd da mit der Angst, die eigenen Kinder und Enkel ebenso wie die Heimat vielleicht nie wieder sehen zu können.

Hoffentlich hält er dicht

Nur ein nahestehender Angehöriger wusste von meinem Vorhaben, nicht mehr nach Hause zu kommen und unmittelbar nach der Arbeit die Reise in eine unbekannte Zukunft anzutreten. Nur mit einer kleinen, möglichst unauffälligen Reisetasche mit den allernötigsten Dingen.

Von meinem Arbeitskollegen habe ich mich wie jeden Tag verabschiedet, ebenso von Freunden und allen anderen Angehörigen, die ich in den Tagen und Wochen vor meiner Abreise getroffen habe. Ein befremdliches Gefühl, dass mitunter tiefe Emotionen hervorgerufen hat.
Selbst wenn der Wunsch einen fast zerrissen hat, zu sagen, dass es das letzte Treffen sein wird, möglicherweise ohne eine Chance auf ein Wiedersehen. Doch als DDR-Bürgerin wusste man, wann es besser war zu schweigen und sich selbst und andere nicht in Gefahr zu bringen.

Der Duft der großen weiten Welt

In dem Zugabteil hat es gerochen wie in einem wochenlang nicht gereinigten Pumakäfig. Damals, mit Anfang zwanzig wusste ich noch nicht, was für ein Geruch das war. Heute, nach meinem überlebten Unfall und bis heute anhaltenden Reise der Traumaheilung weiss ich, dass Angst nicht nur riecht – sie stinkt derart unangenehm, dass einem von der eigenen Duftnote übel wird. Kein Waschen, kein Deo, nicht das teuerste Parfüm schafft Abhilfe.

Begegnung zweier Welten

Fast ohnmächtig von diesem hundertfachen Angstgeruch dauerte die Zugfahrt in das neue Land und neue Leben etwa zehn Stunden. An der damaligen deutsch-deutschen Grenze wurde der Angstgeruch ins Unendliche gesteigert. Die ostdeutschen Grenzsoldaten trampelten durch die Abteile und hatten dabei ihre Maschinenpistolen auf die verängstigen Menschen gerichtet. Ohne Angabe von Gründen wurden Leute aus dem Zug geholt. Abgeführt wie Schwerverbrecher. Vor und hinter ihnen schwerbewaffnete Soldaten, die ohne zu Zögern von ihren noch existierenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Kaum dass ihnen der Moment gelassen wurde, persönliche Dinge mitzunehmen oder sich von Angehörigen zu verabschieden. Für einige von ihnen war die Fahrt damit zu Ende. Der neue Aufenthaltsort für sie war das Untersuchungsgefängnisse.

Wenn es sein musste, haben die Soldaten und Polizisten der damaligen DDR bis zum letztmöglichen Moment geschossen. Für sie waren all die Menschen, die ihre Heimat verließen in der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit mit mehr Selbstbestimmung, Staatsfeinde und Verbrecher.

Ankunft im neuen Land

Wenige Kilometer, doch Stunden später, wurde es freundlich und menschlich. Die westdeutschen Grenzpolizisten waren das völlige Gegenprogramm und haben uns in Erstaunen mit offenen Mündern versetzt. Kein Schreien, keine Kommandos, keine Aufforderungen, den Zug zu verlassen. Keine Waffen, die auf uns gerichtet wurden. Stattdessen Aufklärung darüber, wo wir sind, wo der Zug hinfährt und was die nächsten Halteorte sein werden. Und endlich erfuhren wir auch den Zielort des Zuges.

Wer im „falschen“ Abteil saß, landete in der Pampa – doch immerhin in der westdeutschen Pampa!

Pro Halteort wurde jeweils der letzte Wagon abgehängt, so dass am Zielort (Frankfurt am Main) die Lok nur noch mit einem oder zwei Abteilen einfahren sollte. So sollte eine gerechte Aufteilung auf verschiedene Orte sicher gestellt werden.

Ich hatte das „Glück“, in einem Ort nahe Fulda abgehängt zu werden. Dort war ein Auffanglager für die nächsten Monate meine zuhause. In einem riesigen Raum mit drei-Stockwerk-Betten vereint in Gedanken mit all den anderen Menschen, denn alle hatten wir ähnliche Hoffnungen und Wünsche. Und auch unsere Ängste und Sorgen waren ähnlich***.

Zurück in die Gegenwart

Von derartiger Dramatik ist heute keine Spur. Vielmehr fange ich an, mich auf diesen neuen Lebensabschnitt zu freuen. Es könnte meine leichteste Lebensphase werden. Trotzt meiner körperlichen Verletzungen, trotzt der traumatischen Unfallerfahrungen, trotzt der Tatsache, dass ich meine geliebten Wellies* nicht werde mitnehmen können. Für sie gilt es, ebenfalls eine gute Lösung zu finden.

Zwischen die angst- und sorgenvollen Gedanken mischt sich immer mehr Vorfreude und Hoffnung. Diese Hoffnung trägt derart, dass meine momentane Lebenslage, erschwert auch durch eine äußerst unangenehme** Vermieterin, erträglicher wird.

Auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt

*Wellensittiche
**die höflichste Form der Umschreibung
***über meine Ost-West-Erfahrungen ist ein Buch in Planung.

Bilder: Pixabay
Bildbearbeitung: Katrin F. E. Dohnt von wgl – wiedergehenlernen

LEBEN WILL ICH

Trügerische Gefühle

Ende vergangenes Jahr hatte ich das Gefühl, allmählich wieder in einem lebenswerten Leben angekommen zu sein. Mit meinen Einschränkungen habe ich mich arrangiert. Meine Konzentration liegt auf dem was wieder geht, was wieder möglich ist. Ich habe mich gefreut auf das neue Jahr und darauf, meine Pläne und Ideen endlich umsetzen zu können.

Schöne Bescherung

Zwei Tage vor Weihnachten wurde ich mit einer Diagnose konfrontiert, die lebensbedrohlich sein kann. Zu einem Zeitpunkt an dem ich gedacht habe, dass leichtere Leben begänne, hat mich dies zutiefst erschüttert. Und der Schreck sitzt mir noch immer im Nacken.

Grüsse aus der Vergangenheit

In der Zeit von 1992 bis 1997 wurde ich jedes Jahr einmal, insgesamt sechsmal wegen dieser Erkrankung operiert. Im Dezember 1997 hiess es dann, die Chancen auf Heilung stünden gut. Wenn innerhalb der kommenden sieben Jahre kein Rückfall erfolgt, ist eine völlige Heilung denkbar. Generell gäbe es aber keine absolute Sicherheit.

Zeit heilt doch nicht alle Wunden

Die Jahre gingen ins Land. Aus Jahren wurden mehr als zwei Jahrzehnte und ich hatte dieses Thema völlig aus den Augen verloren. Mehr unregelmässig als regelmässig habe ich zwei Kontrolltermine jährlich wahrgenommen. Nach dem Unfall konnte ich mehrere Jahre die Kontrolltermine nicht wahrnehmen. Ab 2013 / 2014 habe ich zumindest einen Termin pro Jahr geschafft. Stets war alles in bester Ordnung.

Perfektes Timing

Die letzten zwei Jahre konnte ich gesundheitsbedingt die halbjährlichen Kontrolluntersuchungen nicht wahrnehmen – offensichtlich genau der Zeitraum in dem die Erkrankung zurück gekommen  ist.

Die Angst sterben zu müssen

Zwei Tage vor Weihnachten 2021 habe ich die Anfangs-Diagnose erhalten. Bereits einen Tag darauf wurde sie durch eine CT-Aufnahme (Computer-Tomografie) bestätigt. Seitdem geistert die Angst in meinem Kopf herum, sterben zu müssen. Entweder an der Erkrankung selbst oder bei der bevorstehenden Operation.

Ein Gefühl, dass mir völlig neu ist. Egal womit ich in der Vergangenheit zu tun hatte, immer war in meinem tieferen Inneren die feste Überzeugung, wieder gesund zu werden, wieder gehen zu können, wieder ein gutes Leben führen zu können. Dieses Gefühl gibt es diesmal nicht. Ein dunkles Nichts umgibt mich, wenn ich an die Erkrankung denke.

Gutes kann böse werden

Obwohl die Erkrankung laut medizinischer Definition „gutartig“ ist, kann sie in ihren Auswirkungen sehr bösartig sein. Bis hin zur Meningitis mit nachfolgendem Ableben ist alles möglich. Die einzige Wahl der Behandlung ist eine Operation.

Schnell noch geniessen

Das Einzige, das ich im Moment tun kann, ist jeden Tag, jeden Augenblick zu geniessen. Mit all seinen Facetten. Denn das Leben ist schön. Und ich will leben! Kaum wage ich zu hoffen, noch einmal soviel Glück zu haben wie bei der ersten Erkrankung dieser Art.

Fünf Kopf-Operationen habe ich gut „hinter mich gebracht“. Nach jeder Operation hat alles wieder funktioniert – keine Selbstverständlichkeit. Auch eine Wiederbelebungsmassnahme während einer der Operationen ist gut ausgegangen.

Innere Stimme ist verstummt

Selbst nach dem schweren Unfall 2006 hatte ich in allem Unglück so unverschämt viel Glück.Allein durch den Unfall selbst hätte ich tot sein können. Ebenso von den schweren Verletzungen. Doch immer ist alles gut ausgegangen. Ich lebe, ich kann wieder gehen, vieles ist wieder möglich.

Gefühlt passt das alles momentan nicht zusammen. Und so klammere ich mich mit aller Kraft an das Leben und hoffe, mir bleibt noch die Zeit, meine Wünsche und Ideen umzusetzen und noch einmal ein Stück Leben abzubekommen, dass leichter und schön ist.