Fliegende Arme, ein schlafloses Bein und ein zuckender Kopf

Es ist Herbst 2022 – seit fast siebzehn Jahren lebe ich mein anderes, mein zweites Leben.

Vor allem die ersten dreizehn bis vierzehn Jahre kommen mir noch immer unwirklich vor. Meine zeitliche Wahrnehmung hat sich völlig verändert.
Ein Monat fühlt sich an wie drei Tage, die vergangene dreizehn bis vierzehn Jahre hat eine Wahrnehmung von maximal drei bis fünf Jahren.

Verlorene Zeit und befremdliche Begegnungen
Dazu kommt das Gefühl, zehn Jahre verpasst zu haben. Zehn Jahre, in denen ich von der Außenwelt kaum bis gar nichts mitbekommen habe. Das Erschrecken war oft groß, wenn ich im Nachhinein von Menschen erfahren habe, die in dieser Zeit verstorben oder erwachsen geworden waren.
Künstler, die ich im TV zuletzt als Kinder oder Jugendliche gesehen habe, waren plötzlich erwachsen oder hatten eigene Kinder. Es hat sich angefühlt, als wären diese Menschen in einer Zeitmaschine gewesen.

Inzwischen habe ich die fehlenden Jahre so weit zusammengepuzzelt, dass ich keine erschreckenden (Wieder)Begegnungen mehr habe.

wiedergehenlernen wieder gehen lernen paresen lähmungen zeit Bildtext Zeit - eines der großen Mysterien. Mit fortschreitendem Alter vergeht sie gefühlt immer schneller.
Zeit – eines der großen Mysterien. Mit fortschreitendem Alter vergeht sie gefühlt immer schneller.

Der menschliche Körper – das achte Weltwunder
Und immer wieder geschieht in diesen Jahren etwas, dass ich zunächst kaum wahrnehme und das mich staunen lässt. Auch nach dieser langen Zeit gibt es immer wieder Verbesserungen meiner Befindlichkeiten.

Nach dem Unfall hatte ich fürchterliche Spastiken. Meine armen Arme, das rechte (wenig verletzte) Bein und mein Kopf sind permanent unkontrolliert durch ihr Umland gesaust. Sobald ich meine Augen geschlossen habe, hat sich diese Erscheinung extrem verstärkt.

Nervende Nerven
Erholung oder gar Schlaf war so kaum möglich. Bei jedem Versuch, zur Ruhe zu kommen (was mit geschlossenen Augen besser möglich ist), haben meine Nerven begonnen, mich zu nerven.

wiedergehenlernen. Bild auf Seite Beitrag fliegende Arme und schlaflose Beine. Bildtext: Das menschliche Nervensystem - scheinbar unendliche Mengen und Windungen. Sie steuern unsere Bewegungen. Fällt eine Funktion aus, können Nerven neue Wege finden, um die Funktion wieder zu ermöglichen. Wichtigste Voraussetzung: Der eigene Wille.
Das menschliche Nervensystem – scheinbar unendliche Windungen und Wege. Sie steuern auch unsere Bewegungen. Fällt eine Funktion aus, können Nerven neue Wege finden, um die Funktion wieder zu ermöglichen. Wichtigste Voraussetzung: Der eigene Wille.

Bitte drei Meter Mindestabstand halten
Dann war Action am Körper. Und für Menschen, Tiere oder sonstige Wesen war es nicht ungefährlich, zu nah neben mir zu stehen, sitzen oder zu gehen. Da konnte schonmal eine nicht geplante (vielleicht leis gedachte) Backpfeife den Nebenmann oder die Nebenfrau treffen. Oder mein rechtes Bein den Allerwertesten mit einem kräftigen Tritt besuchen. Heute ärgere ich mich gelegentlich, dass ich diese Situation nicht ausgenutzt habe.

Formvollendete Fachkompetenz
Es gab genug Deppen die sowohl eine Backpfeife wie auch einen Tritt verdient hätten. Allen voran der Arschitekt der Telekom AG, Herr Meyer mit großem M und kleinem Fachverstand. Der in seiner formvollendeten Fachkompetenz eine tonnenschwere Wand de facto ohne Befestigung in den Raum hat bauen lassen.

Feinster Ausdruckstanz mit Wegbeschreibung
Ohne dass ich selbst etwas tun musste, haben Arme, Bein und Kopf ungeplante und nicht gewollte Bewegungsmuster vollzogen. Man wusste nicht, war es Ausdruckstanz oder eine Wegbeschreibung nach der niemand gefragt hatte.

Zu diesem ganzen Unsinn hat sich dann noch das linke Bein (das mit dem Aua) gesellt und bei jedem Versuch ruhen oder schlafen zu können, ist das Bein losgelaufen als gäbe es einen Oscar dafür. Eine anstrengende Kombination.

Dann geh doch… (unterlegt mit der Melodie des gleichnamigen Gesangsstück von Howard Carpendale)
Einige Körperteile flogen schmerzhaft umher und das Körperteil, dass im echten Leben ohne Unterstützung nicht mehr gehen kann, begleitete dieses Unterfangen mit liegenden Gehversuchen.

Manch ein gutes Geschirrteil aus der Hutschenreutherserie ist diesen Seltsamkeiten zum Opfer gefallen. Nun habe ich nur noch böses Geschirr. Doch dafür deutlich weniger Spastiken, Zuckungen und sonstige körperliche Mobilitäten.

Der Schokoladenfeind
So plötzlich und laut, wie es nach dem Unfall da war, so allmählich und leise hat es sich aus meinem Körper geschlichen. Wahrscheinlich mag es keine Schokolade und Erdnussbutter. Gefühlt und gegessen besteht mein Leib zu siebzig Prozent aus diesen beiden Köstlichkeiten. Die restlichen dreißig Prozent sind Käsebrote und Schmerzmittel.

Um qualifizierte Erläuterung wird dankbar gebeten
Vielleicht liest irgendwann ein medizinisch gebildetes Wesen diesen Beitrag und kann mit einfachen Worten erklären, was es damit auf sich hat. Leider (oder Göttin sei Dank) bin ich noch immer ohne medizinische Versorgung, so dass ich für vieles keine Erklärung weiß. Die 1,5 Millionen Beiträge im Internet überfordern mich.

Die 70prozentige Beschäftigung meines Oberstübchens. Schokolade in jeder nur denkbaren Form und Sorte. Sie sättigt und führt schnell neue Energie zu. Energie, die mit den Spastiken regelrecht aus dem Körper geschossen wird.

Ein Tag leben.

Drei Tage liegen.

Gehen verbraucht heute soviel Kraft, dass ich nach einem einstündigen Einkauf oder einem Arztbesuch drei Tage Pause brauche. An diesen Folgetagen geht dann kaum noch etwas. Mein Körper zittert vor sich hin, als gäbe es einen Preis dafür. Die Kraft zum Aufstehen fehlt. Nicht selten fehlt die Kraft, den Kopf vom Kissen zu heben. Oftmals kommen zu diesen Erschöpfungen Schmerzen trotzt starker Schmerzmittel hinzu.

Schmerzpartys und Schmerzinseln

Die Körperstellen, auf welchen die Wand damals aufgeschlagen ist befeuern sich gegenseitig. Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule und das linke Bein feiern eine Schmerzparty. Irgendwann ist der gesamte Körper eine Schmerzinsel.

Das (neue) Fußhebersystem

wieder gehen lernen, in kleinen schritten geht es voran, 2022 - das neue fusshebersystem innoStep ist beantragt

Gut Ding braucht Weil…

Und weil das „Ding“ in diesem Fall so besonders und so besonders gut ist, hat es etwas länger geweilt.

Im Oktober 2021 hat mein geliebtes WalkAide* seine wundervollen Dienste eingestellt. Für mich mit spürbaren Folgen: Ohne das Gerät bin ich gehunfähig und müsste einen Rollstuhl benutzen, um vorwärts zu kommen.

Glücklicherweise habe ich bis zur Beschaffung eines Neugerätes ein Leihgerät. Denn so klein der Kasten auch ist, für mich wäre die Alternative der Rollstuhl.

Das menschliche Gehirn – Eine geniale Erfindung!

Wieder gehen lernen mit Hirnverletzung und Paresen, das menschliche gehirn und seine funktionen, definiert nach rechts und links
Das menschliche Gehirn mit seinen seitenrelevanten Funktionen

Zehn Jahre habe ich das WalkAide getragen. Was zunächst gedacht war, um wieder gehen zu können, hat sich schnell als viel mehr erwiesen als „nur“ eine elektronische Gehhilfe.
Mein gesamtes Bewegungsbild hat sich verbessert. Dank des WalkAide haben sich in meinem Gehirn zum einen bereits vorhandene, jedoch unfallbedingt zerstörte Synapsen wieder erholt und es haben sich neue Synapsen gebildet.

Das wunderbare WalkAide

Ein weiterer nicht vorhersehbarer Effekt ist die Überlagerung der Grundschmerzen. Seit dem Unfall befindet sich mein linkes Bein in einem Dauerschmerz. Nachdem ich ab 2015 lindernde Schmerzmittel bekomme sind diese erträglich geworden. Bei Überlastung oder falschen Bewegungen sind diese Schmerzen wider spürbar. Dann kann ich mithilfe des WalkAide die Stärke der elektrischen Impulse so regulieren, dass die Impulse den Beinschmerz überlagern.

Die Impulse durch das WalkAide sind auch schmerzhaft. Als würde frau (man natürlich auch) an einen dieser mit Strom gesicherten Zäune fassen. Je höher der Impuls am WalkAide eingestellt wird, umso stärker der Schmerz.

Zwei FES-Systeme – eine Funktion

Wieder gehen lernen mit Hirnverletzung und Paresen, das elektronische Fusshebersystem WalkAide
Das WalkAide
Wieder gehen lernen mit Hirnverletzung und Paresen, das elektronische Fusshebersystem innoStep - eine weiterentwicklung des walkaide
Das neue FES*
*Fußhebersystem

Von angenehmen und von unangenehmen Schmerzen

Da sich der „Stromschmerz“ wesentlich angenehmer anfühlt als der Schmerz im Bein, ist es eine dankbare Möglichkeit, durch Aktivieren der Stromimpulse die Beinschmerzen zumindest für kurze Momente zu überlagern. Der Grundschmerz im Bein fühlt sich schwer und schwarz an. Als würde ein Tonnengewicht am Bein hängen. Nach zehn Minuten in diesem Schmerzzustand bin ich derart erschöpft, dass ich tagelange Bettruhe benötige, um wieder zu Kräften zu kommen.

Selbst dass ansonsten so zuverlässige Schmerzpflaster, welches laut Definition um ein Hundertfaches stärker als Morphium sei, versagt seine treuen Dienste, sobald sich die Beinschmerzen bemerkbar machen.

AOK unterstützt

Nach Monaten von Ablehnungen und Wiedersprüchen hat die AOK eingelenkt und die Versorgung mit dem elektronischen Fussheber bewilligt. Eine grosse Erleichterung. Der elektronische Fussheber ist für mich ein existenzielles Hilfsmittel, welches das wieder gehen können erst wieder möglich macht. Die Alternative wäre der Rollstuhl.

Herzlichen Dank für das Einlenken und Bewilligen.

E-Mail der AOK:

Guten Tag Frau Dohnt,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 27.10.2021

Wir haben heute telefonisch mit dem Leistungserbringer Fa. Optimus Rücksprache gehalten und dieser wird uns schnellstmöglich einen Kostenvoranschlag für eine 4-wöchige Testphase der Walk Aide 2.0 einreichen. Diese Erprobung wird für alle Nutzer als sinnvoll erachtet, da sich die technische Anwendung mit dem Walk Aide 2.0 im Gegensatz zum Walk Aide geändert hat.

Aus diesem Grund wird ein Mitarbeiter der Firma Optimus in den nächsten Tagen Kontakt zu Ihnen aufnehmen.

Nach erfolgreicher Erprobung kann die Fa. Optimus einen Kostenvoranschlag bei der AOK Hessen für eine dauerhafte Versorgung einreichen.

Wir wünschen Ihnen ein schönes Wochenende und bleiben Sie gesund. 

Mit freundlichen Grüßen

AOK-Die Gesundheitskasse in Hessen

 Claudia Rother
Medizinprodukte-Pflege-Zahnärzte
Fallführung Medizintechnik

Bild Blume mit Schriftzug Danke von wiedergehenlernen.com Danke an die AOK

Bild Blume mit Danke © auf pixabay | Bildbearbeitung > wiedergehenlernen.com | WGL

Mit der Kälte kommen die Schmerzen

Die ständig vorhandenen Schmerzen im linken Bein und im Rest des Körpers sind dank Schmerzpflaster und weiterer Schmerzmittel gut eingestellt.

Jedes Jahr regelmässig mit Beginn der kalten Tage nehmen vor allem die Schmerzen im Bein. Blutgefässe ziehen sich zusammen, die Durchblutung wird schwieriger, die Schmerzen nehmen zu.

So sehr ich den Winter (mit Schnee und Kälte) mag, schmerzbedingt freue ich mich schon wieder auf den Frühling. Bis dahin heisst es zunächst:

Bilder Figur © Peggy und Marco Lachmann-Anke auf pixabay | Bildbearbeitung > wiedergehenlernen.com | WGL